Filmkritik: Le Passé - Das Vergangene












Die Wahrnehmung der emotionalen Schwere von Ereignissen ist individuell different, in ihr jedoch scheinen sich subjektiv betrachtet die Glieder der schweren Ketten lebensweltlicher Probleme bis ins Unermessliche und an den Rand des Ertragbaren zu verlängern – von derartigem Leid, von Wünschen, persönlichen Schicksalsschlägen und von so vielem mehr erzählt Le Passé. Es ist die Geschichte einer Familie, um es punktgenau zu formulieren. Und trotzdem handelt Le Passé viel mehr von Individuen. Wie der preisgekrönte Vorgängerfilm Nader und Simin – eine Trennung von Regisseur und Oscarpreisträger Asghar Farhadi beleuchtet der Film wieder jedes einzelne Segment des großen Mythos „Familie“, stellt die etablierten Gewohnheiten auf die Probe und hinterfragt ihre Strukturen. So diffizil dies klingen mag, so verworren scheinen auch die Beweggründe seiner Protagonisten.

Da ist der geschiedene, dritte Ehemann Ahmad (Ali Mosaffa), der seine Selbstverwirklichung schlussendlich nur im Heimatland Iran fand und für eine Scheidung nun ins ehemalige Zuhause zurückkehrt, um auf dem Gericht von der erneuten Schwangerschaft seiner Ex-Frau zu erfahren. Er selbst ist nicht fehlerfrei, hat eine schwierige Vergangenheit, stellt jedoch sich selbst im Angesicht der Lage vollkommen in den Hintergrund. Vertrauen in ihn: Ein gedanklich vollkommen abwesender und auf den ersten Blick nur mit sich selbst beschäftigter Teenager, Lucie (Pauline Burlet), die von wahrer Liebe noch träumt und die äußerst unmoralischen Abwege ihrer Mutter als Auslöser für eine immense Lebenskrise betrachtet. Die Mutter, Marie (Bérénice Bejo), ist psychisch labiler Kern dieses enormen Konstrukts, verantwortlicher Knotenpunkt zwischen all den involvierten menschlichen Schicksalen. Selbst aggressiv und vollkommen unberechenbar ist es ihr Wunsch nach Zuneigung und ihr überzogenes Geltungsbedürfnis, das im Grunde jede Art von Routine innerhalb der Familie unmöglich macht. Der Mann, dessen Kind sie erwartet: Samir (Tahar Ramin), ein Jüngling mit achtjährigem Sohn, ohne pädagogisches Erziehungskonzept, steht nicht nur vollkommen im Kontrast zu seinem liebevollen und nahezu stets selbstlos auftretenden Vorgänger Ahmad. Dass seine eigentliche Frau nach einem Selbstmordversuch im Koma liegt, deklariert diese Patchwork-Familie par excellence letztendlich zum Spinnennetz, in dem jede kleine Bewegung in eine Richtung das ganze Gebilde zum Wanken, Wackeln und schlussendlich Zerreißen bringt. Und Selbstmord. Ein schwerwiegendes Thema, betrachtet in einem großen Ganzen aus zum Zerspringen gespannten Schnüren der so genannten Liebe. Es sind die emotionalen (Ab-)Wege des Lebens und selbstredend unergründlichen Pfade der Menschheit, auf denen die enorm tief gestalteten Figuren in Le Passé wandeln. Schmerzintensiv verpackt der Film die kleinen Stellschrauben des Lebens, vereint winzige menschliche Fehler mit den großen und lässt Zeitbombe um Zeitbombe platzen.

Trotz derart vielfältiger, handlungsrelevanter Bestandteile, deren Masse im Grunde ein notwendiges Selektieren und Auslassen von Teilen voraussetzt, ist Le Passé eine Beziehungsstudie und Familiengeschichte ohne filmisches Off. Die Kamera lässt ihr Auge niemals von den einzelnen Figuren, sie wendet sich nie ab, zeigt schonungslos wüste Streits, grundlose Eskalationen und die irrationalen Abgründe menschlichen Handelns. Ohne Erbarmen und Kompromiss führen die Figuren sich selbst von einem Desaster ins nächste – die Kamera ist ihr steter Begleiter. Wie sehr sie selbst die Schuld daran tragen, das weiß jede von ihnen. Plakativ werden die kleinsten Mitglieder der Familie Fouad (Elyes Aguis) und Léa (Jeanne Jestin) immer wieder für Nichtigkeiten bestraft, ständig müssen sie sich entschuldigen – denn im Mittelpunkt steht stets die Frage nach der Schuld. Und doch büßen die Erwachsenen ihre persönlichen Fehler in ganz anderen, bedeutenderen Dimensionen – auch wenn sie die Konsequenzen zu tragen nicht bereit sind. Jeder Schritt ist ein weiterer auf dem fortschreitenden Prozess des Zerfalls einer individuellen Existenz innerhalb der familiären Sicherheit. Etwas unbeholfen dabei Samirs Versuch:„Ich möchte in der Gegenwart leben“ – eine Option, die in seiner Situation kaum vertretbar ist. Die Vergangenheit ist in Le Passé längst nicht (mehr) vorbei.

In seinem letzten Akt scheint der Film die bis dorthin enorm stringent durchgezogene authentische Realitätsdarstellung ein wenig zu verlieren. Aus filigranen Dialogen mit Tiefgang und echtem Lebensbezug wird plötzlich eine Detektivgeschichte, ein Krimi und Melodram auf der Suche nach dem Grund für den omnipräsenten Selbstmordversuch von Tamirs Frau. Die Geschichte endet nach einer fundamentalen Beschäftigung mit jedem einzelnen Segment dieser unglückseligen Familie leider nahezu vollkommen losgelöst von einzelnen Figuren, sie geht dem drohenden Resümee aus dem Weg. Sie vernachlässigt trotz intensivster Auseinandersetzung Aspekte, deren Thematisierung der Handlung den letzten Schliff verpasst hätte, denn gerade eine derartig ambivalente Mutter-Tochter-Beziehung fand im Film selten bisher eine ähnlich tiefe und ausführliche Beschäftigung.

Trotzdem ist und bleibt Le Passé die Realität in kadrierten Bildern. Möglich wäre es, dass die Kamera ihre Bildausschnitte geschickt geplant hat, dass Licht und Ausstattung einzeln erwogen wurden, doch es ist nirgends eine Spur davon zu sehen, denn die Dominanz der Worte und des Schauspiels in diesem gefühlsintensiven Spiel von Verstrickungen konstatieren eine Geschichte, deren fiktionale Natur nahezu unsichtbar bleibt.

(von Laura Mücke)

Erstmalig veröffentlicht am 18. Juni 2014.

★★★★☆


Originaltitel: Le Passé


Regie: Asghar Farhadi
Drehbuch: Asghar Farhadi
Kamera: Mahmoud Kalari
Musik: Evgueni Galperine & Youli Galperine

Darsteller:
Bérénice Bejo ... Marie Brisson
Ali Mosaffa ... Ahmad
Tahar Rahim ... Samir
Pauline Burlet ... Lucie
Elyes Aguis ... Fouad
Jeanne Jestin ... Léa
Sabrina Ouazani ... Naima
Babak Karimi ... Shahryar

F 2013, 130 Min.
StudioCanal / Camino Filmverleih
Kinostart: 30.01.2014
FSK 12

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