Filmkritik: Letztes Jahr in Marienbad


Es sind die besonderen Filme, die heute noch Filmkenner zu beeindrucken vermögen – Filme, die nicht „üblich“ sind, mit schrägen Kameraperspektiven, unkonventioneller Montage, beharrlich genauer Bildkomposition und vor allem Filme mit einer ganz besonderen Aussage – Filme, dessen Wirkung und Atmosphäre sich bis heute gehalten haben.
Neben Godards Pierrot le fou, Truffauts Jules et Jim oder Bergmans Wilde Erdbeeren schuf Alain Resnais mit Letztes Jahr in Marienbad einen filmischen Höhepunkt der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Die Geschichte dieses Filmes ist kaum nachzuerzählen, denn beginnt man mit den üblichen Gesichtspunkten, stößt man direkt auf Widerstände: Es geht um ein Paar, das anscheinend doch kein Paar ist, an einem Ort – Marienbad – der niemals genannt wird, in einer Zeit, die nie erwähnt wird mit Personen, die keine Namen haben - denn generell scheint in Resnais' Film nichts das zu sein, was es vorgibt zu sein.
Was der Zuschauer weiß: Es ist die Geschichte eines namenlosen Mannes, der auf einem Schloss, einem Hotel in Marienbad, eine namenlose, bildschöne Frau trifft, der er anscheinend schon einmal begegnet ist. Damals soll sie ihm versprochen haben, sie würde im nächsten Jahr mit ihm gemeinsam weggehen. Wie in einem Wettstreit beginnt der Mann anhand eines Streichholzspiels mit dem vermeintlichen Ehemann der Frau (auch dies wird nie bestätigt) um den Besitz dieser Frau zu kämpfen. Was jedoch problematisch ist: Die Frau erinnert sich nicht mehr an den Mann, geschweige denn daran, dass sie schon jemals an diesem Ort gewesen sein soll. Selbst Beweise des Mannes anhand von rezitierten Szenen, die zwischen ihnen geschehen sein sollen, oder einem Foto, das er im letzten Jahr von ihr gemacht hat, können sie nicht überzeugen oder ihre Erinnerungen zurückholen.

Nach Hiroshima mon amour und Nuit et brouillard befasst sich Alain Resnais nun abermals mit der Thematik des Erinnerns und Vergessens.
Unterstützt wird dies durch die unheimlich exakte Bildkomposition: Leere Korridore, die den unendlichen Weiten der Synapsen gleichen, geschmückt mit Zierrat einer verlorenen Zeit führen den Zuschauer in leere Gärten, an Spiegel, in denen man nur schemenhaft die Figuren zu erkennen glaubt. Voyeuristisch stielt sich die Kamera vorbei an den leeren Hülsen einer oberflächlichen Gesellschaft – die Hotelbesucher – die manchmal regungslos bleiben und ein anderes Mal alle durcheinander reden – all dies tangiert den Blick der Kamera/des Zuschauers nur minimal, wenn er durch den Raum schwebt, um letztendlich wieder bei dem Paar zu landen. Zwanghaft bezieht der Zuschauer alle Dialoge und gesprochenen Worte, vor allem die Erzählerstimme aus dem Off zu Beginn des Films sowie das Theaterstück, auf die Handlung zwischen den beiden namenlosen Protagonisten. Sie alle scheinen kommentieren zu wollen, was dort zu geschehen scheint, doch keiner kann erfassen was wirklich geschieht – so auch der Zuschauer.

Trotz aller Bemühungen wird der aufmerksame Zuschauer immer wieder durch labyrinthartige Montage, durch farbdramaturgische Elemente wie die Farbe der Kleidung oder durch over-the-shoulder-shots bei Fremden auf den falschen (oder doch richtigen?) Weg geführt.
Die „wahre“ Geschichte scheint verborgen zu bleiben, vor uns wie vor den Protagonisten, die sich verirren zwischen sichtbaren Beweisen und erotischen Sehnsüchten. Die Wahrheit wird niemals gefunden – denn dadurch erst gewinnt der Film seine Spannung!
Das Spiel, dass der Protagonist immer wieder verliert, die Statue dessen Bedeutung man nie erfährt aber vor allem der Garten, der uns immer und immer wieder begegnet in seinen unterschiedlichsten Facetten (hell erleuchtet, dunkel und bedrohlich, auf einem Gemälde oder nur partiell) findet niemals eine konkrete Aussage – auch dann nicht, als er plötzlich die Bäume ohne Schatten anzeigt, obwohl die Menschen, die ihn durchqueren sehr wohl einen Schatten werfen.

Ein Hinweis darauf, dass der Mensch nicht mehr, als einen Schatten hinterlässt?
Niemand scheint es zu wissen, doch noch weniger die Menschen, die sich nicht einmal von Letztes Jahr in Marienbad haben beeindrucken lassen. Die nicht einmal eingestiegen sind in das Getümmel von Sequenzen und Einstellungen, von ungewöhnlichen Schnitten, von menschenlosen Stimmen, von nicht zusammenhängenden Texten und Geschichten – von der Atmosphäre, die dieser Film eröffnet, wie es bisher keinem anderem Film gelungen ist – eine einzigartige Perspektive zwischen Wahrheit und Lüge, Vergangenheit und Gegenwart: L’année dernière à Marienbad.

Erstmalig veröffentlicht am 24. Januar 2011. Geschrieben von Laura Mücke.

★★★★☆




Originaltitel: L'année dernière à Marienbad

F/I 1961 | Cocinor / StudioCanal | 94 Minuten | FSK 16 | D-Start: 19. Oktober 1961
Regie: Alain Resnais | Drehbuch: Alain Robbe-Grillet | Kamera: Sacha Vierny | Darsteller: Delphine Seyrig | Giorgio Albertazzi | Sacha Pitoëff

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