Filmkritik: Das Talent des Genesis Potini


Es hat sich abgezeichnet in den letzten Jahren, doch mittlerweile dürfte klar sein, dass die Neuseeländer heute zu den besten Filmemachern der Welt zählen. Vor allem kleine, emotionale Dramen mit starken Bildern und faszinierenden Charakteren gibt es im neuseeländischen Film mehr und mehr zu entdecken. Das fing mit Jane Campions Das Piano an und fand in Als das Meer verschwand und Whale Rider weitere Höhepunkte, um nun mit The Dark Horse mit voller Wucht einzuschlagen. Die wahre Geschichte des unter einer bipolaren Störung leidenden neuseeländischen Schachgenies Genesis Potini, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, Kindern das Schachspielen beizubringen um ihnen eine bessere Zukunft zu gewährleisten, ist von der ersten Einstellung an packend, ergreifend und vor allem phänomenal gespielt: Cliff Curtis (Whale Rider, Sunshine) ist überwältigend in der Titelrolle und spielt sich regelrecht die Seele aus dem Leib.

Einsam und in strömendem Regen schlendert der kräftig gebaute Genesis lebensfroh mitten auf der Straße entlang, Autos weichen ihm mit quietschenden Reifen aus, Menschen sehen ihn irritiert an. Dann entdeckt er ein Geschäft, in dem es Schachbretter zu kaufen gibt. Klitschnass betritt er den Laden, redet mit sich selbst und nur wirres Zeug. Auf einmal packen ihn zwei Polizisten und zerren ihn in ihren Wagen. Genesis leidet an einer bipolaren Störung, die ihn zwischen starken Depressionen und manischen Anfällen schwanken lässt. Doch er ist ein herzensguter, liebevoller Mann, der das große Ziel hat, die Kinder einer kleinen Schachgruppe in der neuseeländischen Ostküstenstadt Gisborne zur Schachmeisterschaft nach Auckland zu führen. Der Weg dorthin ist kein leichter, denn nicht nur seine Krankheit und die Tatsache, dass er obdachlos ist, erschweren ihm die Arbeit, auch sein Bruder, Mitglied in einer brutalen Gang, der seinen Sohn Mana ebenfalls zu einem Gangmitglied machen will, spielt eine nicht unwesentliche Rolle. Der Junge, ebenfalls toll gespielt vom jungen James Rolleston in seiner zweiten Filmrolle (die erste war die Titelrolle in Boy von 5 Zimmer, Küche, Sarg-Regisseur Taika Waititi), will aber viel lieber bei seinem Onkel im Schachclub mitspielen.

Es gibt eine Szene in der zweiten Filmhälfte, in der eine Mutter ihre Kinder aus dem Schachclub herausnimmt, nachdem sie erfahren hat, dass Genesis obdachlos ist. Genesis, vollkommen aufgelöst und von Sinnen, steht mitten in einem Wohngebiet auf der Straße, packt ein Schachbrett aus, knallt es auf die Motorhaube seines Autos und fängt an, Schachfiguren aufzustellen. Dazu brüllt er laut umher, fordert alle Menschen auf, mit ihm zu spielen, die Kamera dreht sich mehrfach im Kreis um ihn herum. Es ist eine bewegende, schmerzhafte, außergewöhnliche Szene, einer von vielen solcher mitreißenden Momente, in denen Cliff Curtis zu Höchstform aufläuft. Der Film gehört zweifelsohne ihm, er beherrscht jede Szene des Films, mal urkomisch, mal tief traurig, mal verzweifelt, mal vollkommen sorgenfrei und losgelöst. Sein Genesis ist einer der liebevollsten und sympathischsten Charaktere, die man seit Langem bewundern durfte.

Wie nicht anders zu erwarten, sind natürlich auch die Bilder wunderschön: Die Kleinstadtidylle wird lebensecht eingefangen, einige wunderschöne Naturaufnahmen dürfen aber natürlich auch nicht fehlen. Dazu kommt Dana Lunds schöne Musik, die die Bilder perfekt untermalt. Alles in allem ist The Dark Horse, im Übrigen unter anderem mit sechs neuseeländischen Filmpreisen (bester Film, Regie, Drehbuch, Haupt- und Nebendarsteller und Musik) ausgezeichnet, ein kleines Meisterwerk vom anderen Ende der Welt.

Erstmalig veröffentlicht am 5. März 2015.

★★★★★



Originaltitel: The Dark Horse

NZ 2014 | Transmission Films | 124 Minuten | FSK 12 | D-Start: 16. Juni 2016

Regie: James Napier Robertson | Drehbuch: James Napier Robertson | Kamera: Denson Baker | Schnitt: Peter Roberts | Musik: Dana Lund | Darsteller: Cliff Curtis, James Rolleston, Kirk Torrance, Miriama McDowell, Barry Te Hira, Xavier Horan, Wayne Hapi, James Napier Robertson, Lyel Timu, Te Ahorangi Retimana-Martin, Calae Hignett-Morgan, Te Rua Rehu-Martin, Niwa Whatuira, Lionel Wellington

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