Filmkritik: Avatar

Wie so oft verhält es sich mit Meisterwerken so, dass man am Anfang noch gar nicht wirklich realisiert, was man eben gesehen hat. Auch aus diesem Grund musste ich Avatar erst ein zweites Mal sehen, bevor ich mich an diese Filmkritik gewagt habe. Und diese zweite Sichtung war auch notwendig, denn diesmal konnte ich entspannt im Kinositz Platz nehmen, die 3D-Brille aufsetzen und James Camerons ersten Spielfilm seit 12 Jahren - seit Titanic - genießen. (Bei der Premiere eine Woche zuvor war ich vermutlich zu angespannt auf Grund der hohen Erwartungen... immerhin habe ich Monate, nein: Jahre, darauf gewartet, dass ich diesen Film endlich zu Gesicht bekomme.)

Es war für mich nicht der erste 3D-Film, auch nicht der erste Realfilm in 3D - aber dennoch war diesmal alles anders: Man ist hautnah mit dabei, wenn Jake Sully - ein Ex-Marine und gespielt vom Australier Sam Worthington (Terminator: Die Erlösung, Somersault und bald zu sehen in Kampf der Titanen sowie an der Seite von Keira Knightley in Last Night), dem eine große Zukunft bevor steht - auf dem Lichtjahre von der durch den Menschen zerstörten Erde entfernten Mond Pandora landet, um in die Fußstapfen seines verstorbenen Bruders zu treten. Das Problem: Forschungsleiterin Grace (Sigourney Weaver) hat zunächst etwas gegen den an einen Rollstuhl gefesselten Sully und als der Colonel (Stephen Lang) von ihm verlangt, herauszufinden, wie man die Na'vi, die Eingeborenen des Mondes, vertreiben kann, um dort wertvolle Rohstoffe zu erschließen, steht er vor einem inneren Konflikt: Anfangs noch ganz Soldat gehorcht er blind - doch nach und nach versteht er erst wirklich, was er tut... und muss nun dafür sorgen, dass die rücksichtslosen Menschen ihren Plan nicht umsetzen können.

Wie so oft, sind es die unscheinbaren, kleinen Szenen, die am längsten im Gedächtnis bleiben. Ein solcher Moment ist der, wenn Sully - als Mensch an den Rollstuhl gefesselt - zum ersten Mal in seinem Avatar unterwegs ist, einen Sprint hinaus aus der Forschungsstation hinlegt und zum Schluss seine großen, blauen Zehen in die braune Erde gräbt.
Auch die ersten Eindrücke Sullys im Dschungel (die auch für den Zuschauer die ersten sind) sind solche schönen Momente, vor allem dann, wenn der Ex-Marine wie ein kleines Kind mit großen Augen durch die Landschaft stolpert, alles anfassen muss (Sam Worthington macht das wirklich sehr gut) und aus dem Staunen nicht mehr heraus kommt - wie der Zuschauer auch.

Cameron hat hier keinen absolut reinrassigen Science Fiction Film gedreht, viel mehr erzählt er eine Geschichte, die in der Vergangenheit, der Gegenwart und auch der Zukunft immer wieder passiert ist und immer wieder passieren wird: Eine (vermeindlich) stärkere Nation greift ein (scheinbar) schwächeres Volk an und will dessen Land aus Machtgründen, aus Habgier (Rohstoffvorkommen) oder einfacher Kriegstreiberei anektieren. Cameron schafft in seinem Film viele Parallelen, seien es die zur Zeit der Entdeckung Amerikas, als die Europäer die Eingeborenen vertreiben wollten, seien es die zur Zeit des wilden Westens, als die Weißen die Indianer verjagen wollten oder seien es die jetzt zum Krieg im Irak. Der Regisseur kritisiert scharf und macht auch keinen Hehl daraus: Man muss sich einfach jemanden zum Feind machen und schon hat man eine Kriegserlaubnis und kann sorgenfrei mit der Bombardierung beginnen.
Neben dieser Kriegskritik ist Avatar aber auch ein wunderschöner Liebesfilm, der die zunächst hoffnungslos erscheinende und ungewöhnliche Liebe zwischen dem Menschen im Avatarkörper und der echten Na'vi erzählt.

Natürlich ist und bleibt Camerons Film ein Science Fiction Werk - aber auch wenn es roboterähnliche Kampfmaschinen gibt, der Film im Jahr 2154 spielt und futuristische Waffen benutzt werden... ist der Film doch mindestens genauso ein Abenteuerfilm in einer fremden Welt, ein Liebesfilm und ein Ökothriller.
Letzteres fällt besonders stark in allen Szenen mit den Na'vi auf, die ein sehr naturverbundenes Volk sind, spirituell und gläubig. Der recht esoterische Touch mag dem einen oder anderen etwas übel aufstoßen, wirkt es doch schon teilweise etwas überzogen, aber wenn man sich daran gewöhnt hat, sieht man auch darüber hinweg.

Die Geschichte ist nicht neu, doch wie und vor allem wo sie erzählt wird ist hier das Besondere. Cameron erschuf mit Hilfe der rennomiertesten Effekte-Firmen (u.a. Industrial, Light and Magic - Krieg der Sterne, Jurassic Park oder Fluch der Karibik - und WETA Digital - Der Herr der Ringe, Eragon oder King Kong) eine neue, eigene Welt mit so faszinierender Landschaft, sagenhaften Tieren und Pflanzen, dass man aus dem Staunen nicht mehr herauskommt. Die Optik von Pandora, extrem bunt und wohl noch weit außergewöhnlicher als der Regenwald, ist mit das Beste am ganzen Film: Die Nachtszenen im Dschungel, wenn alles hell erleuchtet ist und so aussieht wie in den Tiefen der Ozeane - nur eben ohne Wasser -, gehören definitiv zum Schönsten, was je eine Kinoleinwand "gesehen" hat.

Überhaupt sind die Effekte sagenhaft: Die Verschmelzung von Realität und Computeranimation ist so perfekt, die Na'vi so real (vor allem wenn man deren reale Schauspieler kennt, erkennt man sie sofort wieder, was am besten beim Avatar von Sigourney Weaver zu sehen ist), die Kreaturen so fremd und dennoch so lebensecht... es ist so, als würde diese Welt wirklich existieren.

Für den wunderbaren Score zeichnet sich einmal mehr James Horner (Titanic, Apollo 13, Braveheart, In einem Land vor unserer Zeit) verantwortlich, der hier indianische Klänge, impulsive Chorgesänge und futuristische Donnermusik vereint und auch mit dem - wenn auch stellenweise an "My heart will go on" erinnernden - Titelsong "I see you" (gesungen von Leona Lewis) wieder hervorragende Arbeit geleistet und sich damit gerade zwei weitere Golden Globe Nominierungen verdient hat.

James Cameron ist mit Avatar ein außergewöhnliches Werk gelungen, das trotz seiner Länge von über 160 Minuten zu keinem Augenblick langweilt, das in eine so faszinierende, wunderschöne Welt entführt und durch den 3D-Effekt so lebendig wie noch niemals etwas zuvor auf der Kinoleinwand wirkt. Auch der Sound ist beeindruckend und makellos, die Musik sehr gelungen und die Darsteller sympathisch. Die recht eindimensionalen Charaktere - es gibt im Grunde nur eindeutig gut und eindeutig böse - und die einfach gehaltene (aber dennoch wirkungsvolle und voller kritischer Anspielungen gespickte) Geschichte sind im Grunde das einzige was man irgendwie mehr oder weniger als "negativ" auslegen könnte. Wer sich allerdings auf die prachtvoll ausgestattete Welt konzentriert, die Cameron und sein Team in 5 Jahren Arbeit erstellt haben, wird einen Film sehen, wie man ihn noch nie zuvor gesehen hat. Ein außergewöhnliches Erlebnis, das es so noch nie gegeben hat. Und ja... ein Meisterwerk, das sich nicht verstecken braucht und das die Kritiker verstummen lässt, die vor wenigen Wochen noch über Cameron und seine "blauen Schlümpfe" gelacht haben.

Cameron nannte sich bei der Oscar-Verleihung 1998 den "König der Welt". Er ist wieder da. Lang lebe der König.

★★★★☆


Regie: James Cameron

Drehbuch: James Cameron

Darsteller:
Sam Worthington ... Jake Sully
Zoe Saldana ... Neytiri
Sigourney Weaver ... Dr. Grace Augustine
Stephen Lang ... Colonel Miles Quaritch
Giovanni Ribisi ... Parker Selfridge

Trailer:

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