Filmkritik: Dallas Buyers Club

Als AIDS vor etwas mehr als 32 Jahren als eigenständige Krankheit anerkannt wurde, ahnte vermutlich noch so gut wie niemand, welche Folgen diese das Immunsystem zerstörende, tödliche Krankheit haben würde. Eine regelrechte Epidemie überschwemmte Mitte der 80er Jahre die USA und den Rest der Welt - bis heute sind über 36 Millionen Menschen daran gestorben. Darf man sich also die Frage stellen, ob es wichtig ist, auch im Jahr 2014, in dem immer noch über eine Million Menschen an der Krankheit sterben und weit über 30 Millionen daran erkrankt sind, einen Film zu produzieren, der sich mit AIDS und dessen Folgen beschäftigt? Ich denke, es steht außer Frage, dass auch für die heutige Generation wichtig ist, so viel wie möglich zu erfahren, die Risiken zu kennen und zu wissen, wie man damit umgehen kann. Umso unverständlicher erscheinen mir dann Reaktionen auf einen Film wie Dallas Buyers Club, dem - vor allem und gerade aus der Schwulen-Szene - vorgeworfen wird, unnötig zu sein im Jahr 2014 und der angeblich Tatsachen verdrehen würde.

Nun ist es so, dass Ron Woodroof, eine reale Person, die sich Mitte der 80er Jahre vermutlich durch ungeschützten Geschlechtsverkehr mit AIDS infizierte und 1992 daran starb, im Film vom großartigen Matthew McConaughey als anfangs schwulenfeindlicher Rodeo-Texaner dargestellt wird, der im Laufe des Films begreift, was es heißt, Mensch und menschlich zu sein. (Was, zugegebenermaßen ein wenig an Denzel Washingtons Figur in Philadelphia erinnert.) Der reale Ron Woodroof soll aber angeblich selbst bisexuell gewesen sein - und eben kein homophober Cowboy. Kann man dem Film des Kanadiers Jean-Marc Vallée (The Young Victoria) nun aber vorwerfen, er würde die Geschichte verdrehen, weil sich das vornehmlich heterosexuelle Publikum mit einem Protagonisten, der eine Sinneswandlung durchmacht, besser identifizieren kann? Tatsache ist, dass die filmischen Konventionen natürlich eine Entwicklung eines Charakters für eine flüssige Dramaturgie benötigen. Wer will schon einen Helden sehen, der nichts dazulernt und am Ende genauso schlau oder unwissend ist, wie er es zu Beginn seiner "Reise" war. Das gilt doch vor allem für jedes Genre, für jeden Film. Und muss man das nun ausgerechnet einem so menschlichen, packenden Film wie Dallas Buyers Club vorwerfen? Es ist ja nicht so, dass sich der Film damit brüstet, auf einer wahren Geschichte zu basieren. Diese Standard-Floskel, die Hollywoodfilme gerne zu Beginn einblenden, fehlt hier interessanterweise. Auch sind die beiden weiteren Hauptfiguren, der Transvestit Rayon und die Ärztin Eve, rein fiktive Figuren. Schon das sollte doch Indiz genug dafür sein, dass hier mit realen Elementen eine fiktive Geschichte konstruiert wird.

Die Tatsache aber, dass Stimmen aufkommen, Filme über AIDS wären heutzutage unnötig, sind absurd.
"Es gibt bereits jede Menge guter AIDS-Filme, die in den 1990er entstanden. Heute ist aber die Lage bei HIV in den Industriestaaten eine ganz andere Lage und mit den guten Medikamenten leben die allermeisten HIV-Patienten in Westeuropa ganz gut. Daher halte ich es für falsch, hier nun wieder Horrorfilme zum AIDS-Sterben zu bringen, die mit der heutigen Realität in Deutschland, USA oder Frankreich NICHTS zu schaffen haben." (Quelle: www.queer.de)
Würde man solche unsinnigen Aussagen ernst nehmen, müsste man sich ja genauso gut über jeden anderen historischen Film aufregen, der vergangene Zeiten porträtiert. Wozu noch Filme über den Holocaust? Die Lage in Deutschland ist doch heute eine ganz andere? Wozu ein Film über Rassenprobleme und Sklaverei? Das gibt's doch heute in den USA gar nicht mehr. Weg mit Schindlers Liste und 12 Years a Slave - weg mit diesen "Horrorfilmen (...) die mit der heutigen Realität (...) NICHTS zu schaffen haben."

Glücklicherweise haben sich Vallée und sein Team nicht von solch schwachsinnigen Aussagen beeindrucken lassen und einen Film geschaffen, der mit voller Wucht dem Zuschauer einen Schlag in den Magen bereitet, der an Emotionalität und Konsequenz kaum zu überbieten ist und dennoch so weit weg von Kitsch und Klischees ist, dass einen diese grausame, zu Herzen gehende Realität packt und nicht mehr loslässt. Dass ausgerechnet ein Hollywood-Beau wie Matthew McConaughey, den man eigentlich eher aus romantischen Komödien kannte, eine solche impulsive, nicht mehr aus dem Gedächtnis gehende Darstellung abliefert, ist ein Segen für Zuschauer und Filmkritiker, denn hier wurde zweifelsohne ein Talent entdeckt, das Jahre lang ungenutzt blieb. Der waschechte Texaner hat sich nicht nur 20 Kilo abgemagert für die Rolle, die ihm schon einen Golden Globe einbrachte, sondern spielt auch mit einer Intensität und Authentizität, dass es einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Nicht weniger beeindruckend ist die Rolle des mittlerweile eher als Musiker tätigen Jared Leto, der überzeugend in High Heels und Sommerkleidchen den Transvestiten Rayon spielt, der es schafft, aus dem (wir erinnern uns: augenscheinlich nur im Film) homophoben Wüstling einen am Ende einfühlsamen Menschen zu formen, der von der Presse gar als Oskar Schindler der Schwulenszene bezeichnet wurde, da er wirksame, aber in den USA verbotene Medikamente an AIDS-Kranke verkauft und so vermutlich einige Leben gerettet, bzw. verlängert hat. Überraschend überzeugend ist schließlich auch Jennifer Garner, die wohl ebenfalls so gut wie noch nie zuvor in einem Film zu sehen war. Statt Liebeleien oder Zickereien gibt es von ihr hier auch einen emotionalen Schub, den man bei ihr vielleicht nicht für möglich gehalten hätte.

Ist Dallas Buyers Club nun vorzuwerfen, dass er die reale Figur des Ron Woodroof verunglimpft und aus dem scheinbar bisexuellen Texaner einen homophoben Rowdy macht? Wieso sollte es? Filme erzählen doch meistens immer noch "stories, not history". Und für diese fiktive Geschichte musste eine reale Figur ebenso ein wenig umcharakterisiert werden, wie Spielberg das auch mit Abraham Lincoln oder Oskar Schindler gemacht hat, wie Martin Scorsese es mit Georges Méliès oder Ron Howard mit Nicki Lauda getan hat. Film ist immer noch Film - das sollte auch dem Zuschauer in der ersten oder der letzten Reihe des Kinosaals bewusst sein. Jean-Marc Vallées Film jedenfalls ist außergewöhnliches Schauspielkino, kräftig, mutig, emotional und ergreifend, wie es nicht oft zu sehen ist. Ein kleiner Film, der Großes vollbracht hat.

★★★★☆


Originaltitel: Dallas Buyers Club

Regie: Jean-Marc Vallée
Drehbuch: Craig Borten & Melisa Wallack
Kamera: Yves Bélanger

Darsteller:
Matthew McConaughey ... Ron Woodroof
Jared Leto ... Rayon
Jennifer Garner ... Eve
Denis O'Hare ... Dr. Sevard
Steve Zahn ... Tucker
Michael O'Neill ... Richard Barkley
Dallas Roberts ... David Wayne
Griffin Dunne ... Dr. Vass

USA 2013, 117 Min.
Ascot Elite
Kinostart: 06.02.2014
FSK 12

Trailer:

Kommentare