Filmkritik: Philomena

Der US-amerikanische Filmkritiker Kyle Smith von der höchst seriösen (ähm...) New York Post hatte vergangenen November ein Problem, als er Philomena sehen musste: Der erzkonservative Amerikaner bekam es hier mit einem britischen Film zu tun, in dem sich ein ungewöhnliches Paar - eine alte, schrullige Frau und ein mürrischer Mann mittleren Alters - gemeinsam auf die Suche nach einem verschollenen Sohn macht, der der jungen Mutter 1952 von katholischen Nonnen in Irland weggenommen und nach Amerika verkauft wurde. Ein Sohn, der dann erfolgreicher Politiker bei den Republikanern wurde, die dann aber verließ, weil er sich als schwul geoutet hatte und das mit der politischen Ansicht der konservativen Partei nicht vereinbar war. Also ein Film, der - so Smith - "another hateful and boring attack on Catholics" ist. Und in dem dann auch noch ein Schwuler vorkommt? Jesus. "So if 90 minutes of organized hate brings you joy, go and buy your ticket now." Diesen Ratschlag habe ich angenommen und wurde mit einem großartigen, wundervoll gespielten Film belohnt.

Philomena Lees Geschichte ist wahr. Das mag zwischendurch etwas wundersam erscheinen, bei all den Zufällen und Extremen (hey: böse Nonnen! Schwule! Hass im Quadrat!), ist aber am Ende in der Tat das Resultat des Lebens: Erstens kommt es immer anders - und zweitens, als man denkt. Die Grand Dame Judi Dench spielt Philomena so einfühlsam und schrullig, so liebevoll und zerbrechlich, so lebensfroh und gebrochen, dass es eine Freude ist. Und da die großartige Emma Thompson für Saving Mr. Banks nicht nominiert wurde, ist sie bis dato ganz klar meine Favoritin für den Oscar als beste Hauptdarstellerin. Mit ihren mittlerweile 79 Jahren liefert sie hier eine unglaublich packende Performance ab, die alleine schon den gesamten Film trägt. Doch auch - vielleicht sogar gerade - das Zusammenspiel mit dem 30 Jahre jüngeren Steve Coogan, eigentlich britischer Kultkomiker, ist eines der Highlights des Films. In einer nicht enden wollenden Sequenz am Flughafen beispielsweise erzählt Philomena dem Journalisten Martin Sixsmith, der sie auf ihrer Suche nach dem verlorenen Sohn begleitet, den gesamten Inhalt eines Pferde-Groschenromans. Bis ins letzte Detail. Minutenlang. Dench sprüht hier regelrecht vor Enthusiasmus, Coogans Mimik spricht Bände. Eine der vielen großartigen Szenen des Films.

Mit ihrer kleinbürgerlichen Art und Einfachheit überwältigt sie nicht nur Sixsmith, sondern auch die meisten anderen Menschen, die sie auf ihrer Reise trifft - und so nicht zuletzt auch den Zuschauer. Auf Martins Angebot, einen Spaziergang zum Lincoln-Memorial zu unternehmen entgegnet die weltfremde Philomena nur: "We could go and see Mr. Lincoln or we could watch on television Big Momma's House. It's about a little black man pretending to be a fat black lady. They just showed some of it on the television and they'll all chasing after him. It looked hilarious, Martin!" Philomena ist die einfache, alte Frau von nebenan. Keine Heldin. Keine Fiktion. Sie ist die echte, schrullige Frau, die nur noch einen letzten Wunsch hat, bevor es zu spät ist: Sie will ihren Sohn finden. Den Sohn, den ihr die katholischen Schwesten im irischen Kloster damals abgenommen haben. Den sie für 1000 Dollar an den höchstbietenden US-Amerikaner verkauft haben. Die gelogen und betrogen haben. Doch Philomena bleibt bis zum Ende hin die einfache, alte Frau. Für einen Moment ist sie nicht ganz so schrullig, für einen Moment fasst sie einen klaren Gedanken, als sie die mittlerweile im Rollstuhl sitzenden, steinalten Schwester Hildegarde gegenüber steht: "I forgive you because I don't want to remain angry."

Vielleicht sollte sich Kyle Smith, der in dem Kinderraub scheinbar eine Art Nächstenliebe und gutgemeinte Hilfe für Mutter und Sohn sieht, eine Scheibe von Philomena Lee abschneiden, mal für einen Moment seine kurzsichtigen, konservativen, urkatholischen Ansichten beiseite schieben und lernen, dass nicht alles Gold ist, was in der Kirche glänzt. Glaube ist eine Sache, Unmenschlichkeit dagegen ist sicherlich nicht im Sinne Gottes gewesen. Und man muss offensichtlich kein religiöser Mensch sein, um die Emotionen, die Regisseur Stephen Frears (Die Queen) im Verlauf des Films aufbaut, nachvollziehen zu können. So ist, Mr. Smith, Philomena eindeutig alles andere als ein "sugary slice of arsenic cake" oder ein "diabolical-Catholics film". Viel mehr ist Frears mehrfach Oscar nominierter Film ein weiterer Beweis dafür, dass die Briten wunderschön fotografierte, einfühlsam gespielte Tragikomödien lieben und toll inszenieren können. Auch mit bösen Nonnen. Und bösen Republikanern. Und - Jesus! - vor allem mit Schwulen.

★★★★☆


Originaltitel: Philomena

Drehbuch: Steve Coogan & Jeff Pope
basierend auf dem Buch "The Lost Child of Philomena Lee" von  Martin Sixsmith
Kamera: Robbie Ryan
Musik: Alexandre Desplat 

Darsteller:
... Philomena
... Martin Sixsmith
... Young Philomena
... Mary
... Schwester Hildegarde
... Pete Olsson
... Michael / Anthony
... Sally Mitchell

UK/USA/F 2013, 98 Min.
Universum / Square One / Pathé
Kinostart: 27.02.2014
FSK 12

Trailer:


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