„We have to go back!“ Oder: Flashbacks in LOST.

Am 22. September 2004, heute vor genau zehn Jahren, flimmerte die erste Episode einer Fernsehserie über die heimischen Bildschirme, die in den folgenden 6 Jahren Fernsehgeschichte schreiben würde und den Begriff "Quality-TV" wie fast keine andere Serie (neu) definierte. Eines der größten Markenzeichen der Serie von J.J. Abrams, Damon Lindelof und Jeffrey Lieber sind die Flashbacks, Flashforwards und Flashsideways, die die Erzählstruktur von LOST maßgeblich beeinflusst haben, weswegen ich mich hingesetzt und versucht habe, sie genauer zu untersuchen.

Der Flashback
Als die Brüder Lumière 1895 mit dem Cinématographen ihre Filme L’Arrivé d’un Train en Gare de la Ciotat (Ankunft des Zuges, F 1895) und Sortie d’Usine (Arbeiter verlassen die Fabrik, F 1895) vorführten[1], war an all die heute gängigen filmischen Techniken oder narrativen Konventionen noch nicht im Entferntesten zu denken. Es gab zu Beginn weder Farb-, noch Tonfilm, kein Cinemascope und keine Kamerafahrten. Es mag aus heutiger Sicht nicht leicht vorstellbar sein, aber auch Flashbacks[2] waren für lange Zeit alles andere als gängige narrative Verfahren im Film.
Der Flashback, auch Analepse genannt, lässt sich prinzipiell einfach definieren: Er stellt ein Segment eines Films dar, das Ereignisse zeigt, die zeitlich gesehen vor der Gegenwart der Haupthandlung liegen. Dabei besteht er meistens aus einer Erinnerung oder Erzählung einer handelnden Figur.[3]
In der Filmgeschichte spielten Flashbacks zunächst keine und später nur eine untergeordnete Rolle, fanden eher im Independent, als im Classical Hollywood Kino Beachtung und waren dort dann zunächst einmal fast ausschließlich dem Film Noir vorbehalten. Doch seit den 1960er Jahren wurde der Flashback auch im Mainstream-Film immer populärer und gilt heute, im 21. Jahrhundert, als ganz und gar konventionelles, gewöhnliches narratives Verfahren, das immer wieder in Film und Fernsehen eingesetzt wird um der Handlung wichtige Hintergrundinformationen nachzuliefern. Der Flashforward dagegen ist auch heute noch eher ein Element des fantastischen Films, findet in Science Fiction-Filmen wie Minority Report (USA 2002) oder der Fernsehserie LOST (USA 2004-2010) Verwendung für oftmals düstere Visionen und Blicke in eine mögliche Zukunft.

Das TV-Phänomen LOST
Jack, Hurley und Kate: Langeweile kennen sie nicht.
Als LOST im September 2004 zum ersten Mal über die Fernsehbildschirme flimmerte, schien das Serienkonzept einfach strukturiert zu sein: Ein Flugzeug stürzt ab, es gibt einige Überlebende und man wartet gemeinsam auf die Rettung. Doch LOST wäre nicht so ein immenser Erfolg geworden, wenn es nicht noch mehr gegeben hätte. Schon in der ersten Episode 1x01 Pilot, Part 1 (Gestrandet, Teil 1) wird klar, dass hier mit fantastischen Elementen gearbeitet wird. LOST ist ein gewaltiger Genre-Mix, eine „Drama-Mystery-Abenteuer-Thriller-Action-Serie mit Science Fiction Elementen“[4], mit einem ungewöhnlich großen Cast und so vielen Subplots, Geheimnissen und Rätseln, dass es unmöglich erscheint, nur eine Folge auszusetzen ohne wichtige Hinweise zu verpassen oder dem Geschehen noch voll und ganz folgen zu können.

Bedeutung und Nutzen der Flashbacks und Flashforwards in LOST
[Hinweis: Der nachfolgende Text beinhaltet einige Spoiler zur TV-Serie LOST!]
Viele dieser Geheimnisse werden in LOST anhand von Flashbacks aufgeklärt. Alle Überlebenden von Oceanic Flug 815 haben einiges an seelischem Ballast mit auf die Insel gebracht, unschöne Ereignisse und Eigenschaften aus ihrer Vergangenheit, die Stück für Stück mit Hilfe von Flashbacks ans Licht kommen werden.[5] So sind die Rückblenden weit mehr als eine einfache narrative Gelegenheit, Geschichten zu erzählen – sie sind unabdingbar für die Entwicklung der Serie und ihrer Charaktere. LOST handelt nicht nur von einem Flugzeugabsturz und dessen Folgen, es geht vor allem um die geheimnisvolle Vergangenheit der Überlebenden. Jeder der Protagonisten verbirgt etwas, das die Serie nach und nach über sechs Staffeln hinweg ans Licht bringen will. Die Flashbacks dienen dabei als eine Art emotionales Rückgrat, sie zeigen entscheidende Ereignisse im Leben der Charaktere vor dem Unglück.[6] Erst mit Hilfe der Flashbacks werden manche Verhaltensweisen der Figuren auf der Insel verständlich[7], ihre Backstories definieren ihr Handeln und offenbaren, dass im Grunde jeder der Überlebenden schon vor dem Absturz kein vollkommenes, perfektes und glückliches Leben geführt hat.[8]

Die Flashbacks, die seit dem Finale der dritten Staffel eingeführten Flashforwards sowie die Flashsideways, die es in der finalen sechsten LOST-Staffel gibt und die eine alternative Welt zeigen[9], führen den Zuschauer durch ein Labyrinth aus potentiellen Storylines, Verknüpfungen von Figuren, Rätseln und Puzzles.[10] Dabei sind die Flashbacks unabdingbar für den weiteren Verlauf der Handlung, sie sind also inhaltlich eindeutig motiviert und würden die Geschichte in sich zerfallen lassen, wären sie nicht vorhanden. Auch leiten die Flashbacks keine neuen, unabhängigen Plotlines ein, sondern beziehen sich direkt auf die etablierte Mythologie der Geschichte.[11] Prinzipiell sind die Flashbacks thematisch oder erzählerisch stark mit den Ereignissen auf der Insel verknüpft. In der Episode 3x13 The Man from Tallahassee (Der Mann aus Tallahassee) erfährt man in den Flashbacks beispielsweise wie es dazu kam, dass John Locke vor dem Flugzeugabsturz an einen Rollstuhl gefesselt war, während man in der Inselhandlung parallel dazu Benjamin Linus ebenfalls in einem Rollstuhl sieht. Die Verbindung ist umso interessanter, da die Figuren von Locke und Linus in einem engen Verhältnis zueinander stehen. Mit Ausnahme der Episoden 2x18 Dave, 6x09 Ab Aeterno (Seit Anbeginn der Zeit) und 6x15 Across the Sea (Übers Meer) enden alle LOST-Folgen in der Insel-Gegenwart. Diese Ausnahmen stellen somit offene Flashbacks dar, bei denen man am Schluss in der Vergangenheit hängen bleibt.

Benjamin Linus hat's nicht leicht: In gefühlt jeder Episode
wird der Anführer der "Anderen" blutig geschlagen.
Da das Rätsel um die Vergangenheit der Überlebenden genauso spannend sein muss wie die Insel selbst[12] kommt es nicht selten vor, dass sich Personen oder Gegenstände aus einem Flashback zu einem späteren Zeitpunkt auf der Insel physisch manifestieren.[13] So trifft Jack Shephard in Episode 2x01 Man of Science, Man of Faith (Glaube und Wissenschaft) in einem Stadion beim Joggen auf Desmond Hume – der schließlich auf derselben Insel landet wie Jack. In der Episode 2x09 What Kate did (Was Kate getan hat) erscheint in Kate Austens Flashback ein schwarzes Pferd, auf das sie wenig später auf der Insel trifft. Und das Kleinflugzeug, das in der Episode 2x10 The 23rd Psalm (Psalm 23) in Nigeria mit Drogenschmugglern und Mr. Ekos totem Bruder Yemi an Bord startet, stürzt ebenfalls auf genau dieselbe Insel und ist letztendlich für den Tod von Boone Carlyle verantwortlich.
Die Anzahl an charakterbezogenen Flashs variiert von Figur zu Figur. Die meisten (25 insgesamt) hat dabei der zentrale Protagonist Jack, Kate (19) und Locke (18) folgen danach.[14] Die Auflistung hebt die Relevanz und Bedeutung der einzelnen Figuren hervor: So ist Jack viel mehr mit der Insel verbunden und von größerer Bedeutung für sie als beispielsweise Sawyer, der nur auf 14 Flashs kommt. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel: So ist Desmond inhaltlich betrachtet vermutlich die wichtigste Figur innerhalb der Insel-Geschichte, hat aber bedingt auch durch seinen späteren Einstieg in die Serie und sein zwischenzeitliches Leben abseits der Insel deutlich weniger Screentime.[15]
Die Chronologie in LOST ist dabei fast durchgängig verworren und kompliziert aufgebaut: Die nicht-lineare narrative Struktur springt zwischen Gegenwart (die Ereignisse auf der Insel), Vergangenheit (die meist Charakter-spezifischen Flashbacks), Zukunft (die Flashforwards, die das Leben von sechs Protagonisten nach der Rettung von der Insel zeigen) sowie alternativer Zeitlinie (die Flashsideways, die die Protagonisten in einer Art Parallelwelt zeigen) hin und her und sorgt so für ein herausforderndes Seherlebnis.[16]

Inszenierung der Flashbacks und Flashforwards in LOST
[Hinweis: Der nachfolgende Text beinhaltet einige Spoiler zur TV-Serie LOST!]
Der allererste Flashback der Serie erfolgt nach der Hälfte der ersten Episode 1x01 Pilot, Part 1. 20 Minuten sind vergangen, als die Episode die Handlung ohne jede Markierung auf einmal in ein Flugzeug – es ist Oceanic Flug 815 – verlegt. Der Zuschauer erkennt nach wenigen Sekunden, dass es sich bei der gezeigten Szene um einen Flashback handelt, der wenige Minuten vor dem Absturz spielt und kurze Zeit später mit dem Herabfallen der Sauerstoffmasken endet und so abrupt mit einem Schnitt verschwindet, wie er angefangen hat. Es soll der einzige Flashback der ersten Episode bleiben – nicht jedoch der letzte im abstürzenden Flugzeug. Noch mehrmals innerhalb der Serie – bis hin zur letzten Staffel – wird es Rückblenden zu Flug 815 geben, wobei immer wieder identische Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven, mit Fokus auf andere Figuren gezeigt werden.

Jack erwacht nach dem Flugzeugabsturz im Dschungel.
Dieser allererste Flashback konzentriert sich auf Jack, die zentrale Figur der Serie. Auch im weiteren Verlauf werden sich die Flashs (und die vorausgehende Binnenerzählung) innerhalb einer Episode mit wenigen Ausnahmen[17] nur auf einen der Protagonisten konzentrieren. Währenddessen wird über die gesamte Serie hinweg parallel die Rahmenhandlung, das Überleben auf der Insel und Lösen der Geheimnisse, vorangetrieben. Im zweiten Teil des Pilots, 1x02 Pilot, Part 2 (Gestrandet, Teil 2), erfolgt der zweite Flashback der Serie schon sehr früh und ist zugleich ein subjektiver Flashback, der offensichtlich auf einer Erinnerung basiert. Charlie Pace, ein ehemaliger Rockstar und Junkie, muss nach der Bemerkung Kates, er sei kein Feigling, daran denken, wie er im Flugzeug kurz vor dem Absturz noch versucht hat, auf der Bordtoilette Drogen zu konsumieren. Der Übergang von der Inselhandlung zur Rückblende ist dabei mehrfach markiert: Zunächst einmal lässt die Kamera Kate aus dem Bild laufen, während Charlie stehen bleibt. Anschließend fährt die Kamera langsam näher auf Charlies Gesicht zu. Parallel dazu ist nicht nur spannende Musik zu hören, sondern auch ein undefinierbares Klopfgeräusch. Ein Schnitt erfolgt und man sieht nun in einer Großaufnahme Charlies rechte Hand als passende Visualisierung zur vorherigen Tonbrücke auf die Metalllehne seines Flugzeugsitzes klopfen. Im nun folgenden Flashback wird klar, dass Charlie drogenabhängig ist. Am Ende der Rückblende schafft er es gerade noch, sich eine Sauerstoffmaske überzuziehen – den Absturz des Flugzeugs sieht man dann allerdings auch diesmal nicht. Das Bild wird schwarz und schneidet anschließend wieder zurück an den Strand. Es gibt noch einen zweiten Flashback in dieser Folge, in dem Kates kriminelle Vergangenheit angerissen wird: Mitgenommen von den vorangegangenen Ereignissen lehnt sich Kate an eine große Palme irgendwo im Dschungel der Insel und fixiert einen rechts aus dem Bildkader gelegenen Punkt auf dem Boden. Als die Stimme einer Stewardess fragt, ob sie ihr noch etwas zu trinken bringen könne, reagiert Kate auf der Insel scheinbar auf diese Frage, dreht sie doch plötzlich den Kopf zur Seite. Ein Schnitt noch während der Frage zurück ins Flugzeug zeigt ebenfalls Kate, die ihren Kopf hebt und zur Stewardess blickt. Der Flashback, in dem man nun auch erstmals sieht, wie das Heck des Flugzeugs abgerissen wird, endet mit einem erneuten Schnitt auf Kate, die nun wieder an der Palme lehnend zu Boden sieht.

In der dritten Episode, 1x03 Tabula Rasa, etabliert sich bei den Flashbacks etwas, das bis zum Ende der Serie hin fast durchgängig zum Einsatz kommt: Ein Soundeffekt, der fast jede Zeitverschiebung einleitet und wieder beendet, eine Art Luftzug, der sich in einem Vakuum selbst auffrisst, ein „whoosh“. Ebenfalls ein wiederkehrender Soundeffekt ist eine Art kurzes, aber heftiges Zuschlagen einer Metalltür. Dieses Geräusch wird auch des Öfteren zum Beenden eines Flashbacks genutzt. Eine Besonderheit innerhalb der Serie stellt die 32. Episode von LOST, 2x07 The other 48 Days (Die anderen 48 Tage), dar, da hier die gesamte Folge ein Flashback ist, der die Ereignisse, die die Überlebenden aus dem Heck von Flug 815 erlebt haben, zeigt. Dazu wird immer per Texteinblendung verdeutlicht, um welchen Tag es sich handelt. Zusammen mit der Episode 6x15 Across the Sea ist sie die einzige vollständig chronologisch erzählte Episode, in der es keinerlei unterbrechende, zeitliche Sprünge in die Vergangenheit oder Zukunft gibt.[18]

Claire und Charlie bei Aarons Geburt.
Claire Littletons Flashbacks in der Episode 2x15 Maternity Leave (Mutterschutz), die vollständig auf der Insel spielen, werden nicht wie gewöhnlich mit dem bekannten „woosh“-Sound eingeleitet, sondern mit dem plötzlichen, schnellen Aufblitzen von Bildern aus ihrer Gefangenschaft bei den „Anderen“. Parallel dazu ertönt ein unangenehmer, an den Horrorfilm erinnernder Sound, der Claires Angst verdeutlichen soll. Auch die Rückblenden von Michael Dawson, die seine Zeit bei den „Anderen“ zeigen, beginnen in der Episode 2x22 Three Minutes (Drei Minuten) nicht wie gewöhnlich mit dem bekannten „woosh“-Sound, sondern mit einem Schnitt auf ein Schwarzbild mit weißer Texteinblendung, in der die Handlungszeit wiedergegeben wird (also beispielsweise „13 Tage zuvor“).[19]

Mit Beginn der dritten Staffel von LOST, inhaltlich gesehen also nach der Zerstörung der „Schwan-Station“, treten bei Desmond immer wieder Visionen auf, die zukünftige Ereignisse zeigen. Diese Variationen des Flashforwards dienen inhaltlich fast immer dazu, den Tod von Charlie zu zeigen. So sieht Desmond einmal wie Charlie vom Blitz getroffen wird (3x04 Every Man for Himself (Jeder für sich)), wie er beim Versuch, Claire zu retten, ertrinkt (3x08 Flashes before your Eyes (Erinnerungsfetzen)) und wie er gegen einen Felsen schlägt, als er eine Möwe für Claire fangen will (3x12 Par Avion (Luftpost)). Bei der vierten Todes-Vision Desmonds in der Episode 3x17 Catch-22 weiß der Zuschauer zunächst nicht, dass es sich um eine Vision handelt, da es die erste Szene der Episode ist. Das wiederum sorgt für einen Schockmoment, als Charlie von einem Pfeil in den Hals getroffen wird und sofort stirbt. Nach einigen dramatischen Sekunden, die man den Zuschauer glauben lässt, einer der Hauptcharaktere sei soeben gleich zu Beginn einer Episode brutal ums Leben gekommen, flackern auf einmal verschiedene Bilder auf, die Sättigung wird hochgedreht, der Ton klingt blechern und weit entfernt. Manche der gezeigten Ereignisse kennt der Zuschauer schon, andere wiederum scheinen in der Zukunft zu liegen: Hugo Reyes, alias Hurley, wie er ein Kabel am Strand findet, ein blinkendes, rotes Licht am schwarzen Nachthimmel, das Foto von Desmond und seiner Freundin Penelope Widmore. Ein Schnitt zu einer Großaufnahme von Desmonds sichtlich verschwitztem, irritiertem Gesicht und eine darauf folgende Kamerafahrt weg von ihm machen deutlich, dass es sich bei Charlies Tod erneut um eine Vision und nicht um die Gegenwart gehandelt hat.

Desmond erlebt den schönsten Moment seines Lebens.
Eine Besonderheit stellt die schon erwähnte Desmond-zentrierte Episode 3x08 Flashes before your Eyes dar, da ihr Flashback, der fast die gesamte Episode einnimmt, nicht von gegenwärtigen Ereignissen auf der Insel unterbrochen wird, sondern von einer kurzen Szene zu Beginn und zum Ende der Folge eingeklammert wird. Dieser Fall von sogenanntem Bracketing tritt auch später noch einmal in Episode 4x08 Meet Kevin Johnson (Mein Name ist Kevin Johnson) auf. In beiden Fällen konzentrieren sich die Flashbacks auf jeweils einen Charakter, während bei den schon genannten Episoden 2x07 The other 48 Days und 6x15 Across the Sea eine Personengruppe thematisiert wurde.
Prinzipiell könnte man bei LOST generell von einem alle Staffel umfassenden Bracketing sprechen: Die erste wie auch die allerletzte Szene der Serie zeigen Jack in einem Bambuswald auf dem Boden liegend. Die erste Einstellung der Pilotfolge zeigt Jacks sich öffnendes Auge in einer Großaufnahme, die letzte Einstellung der finalen Episode 6x18 The End, Part 2 (Das Ende, Teil 2) Jacks Auge, wie es sich schließt. Ein Kreislauf ist vollendet, alles dazwischen, alle Flashs und jedes gegenwärtige Ereignis führte darauf hin.[20]
Dass die Flashbacks dem Zuschauer dabei helfen können, Handlungen von Charakteren besser zu verstehen, zeigt sich beispielsweise in der Episode 3x21 Greatest Hits, in der Charlie, wohlwissend, dass er schon bald sterben wird, die fünf bedeutendsten Momente seines Lebens aufschreibt und sich jeden dieser Momente auch noch einmal visualisiert.
LOST’s flashbacks, as well as connecting to the central narrative enigmas, illuminate the behaviour and motivations of the character foregrounded in the narrative present of a particular episode. Charlie’s Greatest Hits flashbacks not only point to his inevitable fate, for example, but help the audience to understand why he so readily embraces it.[21]
Das Finale von Staffel 3 brachte auf einmal weitreichende narrative Veränderungen mit sich: In den beiden Episoden 3x22 Through the Looking Glass, Part 1 (Hinter dem Spiegel, Teil 1) und 3x23 Through the Looking Glass, Part 2 (Hinter dem Spiegel, Teil 2) gibt es erstmals – aber bis zur letzten Szene noch ohne Wissen des Zuschauers – Flashforwards zu Jacks verzweifeltem Leben nach der offensichtlichen Rettung von der Insel. Der Plot-Twist im Staffelfinale setzt die grundlegende Erzählstrategie von LOST zurück und verändert den Fokus des Zuschauers: Die Frage, ob die Überlebenden es schaffen werden, die Insel zu verlassen, ist scheinbar geklärt – nun kommt aber die neue Frage auf, wie es ihnen, und ob allen oder nur einem Teil von ihnen, gelungen ist.[22] Roberta Pearson sieht damit ein neues Problem in der Erzählstruktur von LOST:
The introduction of flash-forwards potentially makes LOST’s nonlinear narrative even more problematic. Until the final moments of the third season, the audience’s experience of LOST involved the relatively straightforward experience of ‘now’ and ‘earlier’. The introduction of the flash-forward device, however, poses the showrunners an even greater challenge: recontextualizing the narrative ‘present’ as the ‘future’s past’.[23]
Auch Verena Schmöller verweist auf die um ein vielfaches komplexeren Herausforderungen an einen Flashforward:
Während die Flashbacks – gerade auch durch die Bildkomposition und -montage – noch als Erinnerung der jeweiligen Figur interpretiert und damit der Figur zugeordnet werden können, kann das für die Flashforwards nicht gelten, [da sie] nicht das in der Zukunft Erlebte der Figuren [zeigen], was dann ebenfalls wieder als Erinnerung verstanden werden könnte. Sie präsentieren vielmehr, was sich im Folgenden noch ereignen wird, was die Figuren aber noch nicht erlebt haben. Deshalb müssen die Flashforwards als Vorausschau einer narrativen Instanz [...] und damit als Erzählstrategie gewertet werden.[24]
Um den Grad der Komplexität noch einmal zu steigern, muss man die Episode 4x05 The Constant (Die Konstante) näher betrachten. Auch sie stellt eine Besonderheit innerhalb der LOST-Welt dar, da sie die erste Episode der Serie ist, die weder Flashbacks, noch Flashforwards beinhaltet, sondern stattdessen Bewusstseinsreisen Desmonds zeigt. Innerhalb dieser mentalen Zeitreise[25] springt die Handlung willkürlich zwischen den Jahren 1996 und 2004 hin und her.[26]

Jin ereilt ein ungeahntes Schicksal.
Nachdem in den ersten sechs Episoden der vierten Staffel sowohl Flashbacks, als auch Flashforwards sowie die Bewusstseinsreise von Desmond gezeigt wurden, wurden in der Episode 4x07 Ji Yeon die Ereignisse so konstruiert, dass es zunächst den Anschein macht, als würde es sich bei allen Szenen um Flashforwards handeln. Erst in der letzten Szene der Episode kommt die Auflösung: Hurley besucht Sun-Hwa Kwon, was zwar auf einen Flashforward schließen lässt, der dann allerdings die schockierende Wende offenbart, dass die gezeigten Szenen mit Jin-Soo Kwon Flashbacks in die Zeit vor dem Flugzeugabsturz waren, und er in den gezeigten Flashforwards scheinbar tot ist. Die Episode ist damit die erste gewesen, die Flashbacks und Flashforwards beinhaltete.
Noch eine Besonderheit bei der Einbindung von Flashbacks in LOST stellt die auch schon erwähnte Episode 4x08 Meet Kevin Johnson dar: Zum ersten Mal innerhalb der Serie werden Erinnerungen eines Charakters, in diesem Fall Michael, einer anderen Person erzählt. In allen 79 vorherigen Episoden waren die Flashbacks entweder objektiv motiviert oder wenn subjektiv, dann normale Erinnerungen eines Charakters, die allerdings niemals mit anderen Figuren geteilt wurden. Hier, in der 80. LOST-Episode nun, erzählt Michael Sayid Jarrah, wie er auf den Frachter gekommen ist und wie es dazu kam, dass er als Spion für Benjamin Linus arbeitet.

Conclusio
LOST nutzt neben den Flashforwards vor allem Flashbacks, um seine mysteriöse Geschichte über sechs Staffeln hinweg zu erzählen. Dabei dienen die in (fast) jeder Folge gezeigten Rückblicke der schrittweisen Aufdeckung der Geheimnisse aus der Vergangenheit aller Protagonisten. Die Flashs werden hierzu in verschiedenen Variationen eingebaut und modifiziert, Markierungen variieren ebenso wie die Zeitpunkte und Handlungsorte. Mit Hilfe des Einsatzes von Flashbacks, Flashforwards und Flashsideways gelingt es der Serie, eine komplexe, anspruchsvolle Narration aufzubauen, die über sechs Jahre hinweg Rätsel löst, neue Fragen aufwirft und den Zuschauer in seinen Bann zieht. Diese Flashs sind dazu der emotionale Kern, das Herz und die Seele von LOST.



[1] Vgl. Pearson, Roberta (2006): Das frühe Kino. In: Nowell-Smith, Geoffrey (Hrsg.): Geschichte des internationalen Films. Stuttgart (u.a.): Metzler. S. 18.
[2] Im vorliegenden Text werden primär die englischen Begriffe „Flashback“ für die Rückblende und „Flashforward“ für die Vorausschau genutzt.
[3] Vgl. Hartmann, Britta (2007): Rückblende. In: Koebner, Thomas (Hrsg.): Reclams Sachlexikon des Films. Stuttgart: Reclam. S. 607.
[4] Reinecke, Markus (2007): TV-Serien als Megamovies. Die US-Serie LOST als Beispiel einer neuen Seriengeneration. Hamburg: Diplomica Verlag. S. 62.
[5] Vgl. Vaz, Mark Cotta (2006): LOST Chronik. Köln: Egmont vgs. S. 15.
[6] Vgl. Vaz (2006), S. 75.
[7] Vgl. Eschke, Gunther / Bohne, Rudolf (2010): Bleiben Sie dran! Dramaturgie von TV-Serien. Konstanz: UVK. S. 151.
[8] Manchen, wie John Locke, der vor dem Absturz an einen Rollstuhl gefesselt war und nun wie durch ein Wunder wieder laufen kann, geht es auf der Insel weitaus besser als in ihrem vorherigen Leben.
[9] Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird im Folgenden darauf verzichtet, immer wieder von Flashbacks, Flashforwards und Flashsideways zu sprechen, wenn alle drei Varianten gemeint sind. Stattdessen wird kurz und knapp nur von den „Flashs“ gesprochen.
[10] Vgl. Pearson, Roberta (2009): Reading LOST. London (u.a.): I. B. Tauris. S. 10.
[11] Vgl. ebd., S. 154.
[12] Vgl. Vaz (2006), S. 79.
[13] Vgl. Berger, J.M. (2006): Flashbacks, Memory and Non-Linear Time. http://loststudies.com/1.2/memory-and-time.html.
[15] Desmond Hume wird dennoch als ein Hauptcharakter von LOST angesehen, auch wenn er weder im Unglücksflugzeug war, noch von Anfang an Teil der Serie war.
[16] Vgl. Pearson (2009), S. 171.
[17] Ausnahmen sind meistens eng miteinander verbundene Charaktere wie Michael Dawson und sein Sohn Walt, das Ehepaar Bernard und Rose Nadler oder die kurzlebigen Nebencharaktere Nikki und Paulo. Auch in den Staffelfinals gibt es meistens Flashbacks mehrerer Protagonisten.
[19] Vgl. Pearson (2009), S. 132.
[20] Nun könnte man natürlich spekulieren, ob Jack nach dem Flugzeugabsturz schwer verwundet im Bambuswald liegt und alle Ereignisse, die sich zwischen der Pilotfolge und dem Serienfinale ereignen, nur in seinem Kopf stattfinden. Damit wären ganz einfach sämtliche Mysterien der Insel aus der Welt geschafft, wobei allerdings dagegen sprechen würde, dass Jack kurz vor seinem letzten Atemzug noch ein Flugzeug – Oceanic Flug 815 – am Himmel fliegen sieht, was wiederum für den Wahrheitsgehalt des Erlebten sprechen müsste... vorausgesetzt Jack halluziniert auch in diesem Moment nicht.
[21] Pearson (2009), S. 153.
[22] Vgl. ebd., S. 126.
[23] Ebd., S. 173.
[24] Schmöller, Verena (2012): Further Instructions. Zum seriellen Erzählen in LOST. In: Dies. (Hrsg.) / Kühn, Marion (Hrsg.): Durch das Labyrinth von LOST. Die US-Fernsehserie aus kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive. Marburg: Schüren. S. 25.
[25] Diese Zeitreise, die nicht körperlich vollzogen wird, findet mental statt. Das Bewusstsein des Reisenden „fließt“ dabei in eine andere Zeit, während der Körper zurück bleibt. Desmonds „Reise“ kann man daher vermutlich am besten mit Billy Pilgrims in Slaughterhouse-Five (Schlachthof 5, USA 1972) vergleichen: Auch er reist nicht im engeren Sinne durch die Zeit, viel mehr „erinnert“ er sich an verschiedene Ereignisse in seiner Vergangenheit oder Zukunft, da er die Gegenwart niemals wirklich verlässt, sondern in allen Zeiten anwesend ist, er ist gewissermaßen „unstuck in time“. Vgl. Tally jr., Robert T. (2011): Kurt Vonnegut and the american novel. A postmodern iconography. London (u.a.): Continuum, S. 80.
[26] Ab der ersten Folge von Staffel 5, 5x01 Because you left (Weil du gegangen bist), wird es dann “richtige”, körperliche Zeitreisen geben, bei denen die Protagonisten unfreiwillig durch die Zeit springen.

★★★★★


Originaltitel: LOST

Idee: J.J. Abrams, Jeffrey Lieber, Damon Lindelof
Musik: Michael Giacchino

Darsteller:
Matthew Fox ... Jack Shephard
Evangeline Lilly ... Kate Austen
Josh Holloway ... James "Sawyer" Ford
Terry O'Quinn ... John Locke
Naveen Andrews ... Sayid Jarrah
Jorge Garcia ... Hugo "Hurley" Reyes
Michael Emerson ... Benjamin Linus
Henry Ian Cusick ... Desmond Hume
Dominic Monaghan ... Charlie Pace
Emilie de Ravin ... Claire Littleton
Daniel Dae Kim ... Jin Kwon
Yunjin Kim ... Sun Kwon
Harold Perrineau ... Michael Dawson
Elizabeth Mitchell ... Juliet Burke
Ken Leung ... Miles Straume
Nestor Carbonell ... Richard Alpert
Malcolm David Kelley ... Walt Lloyd
Maggie Grace ... Shannon Rutherford
Jeremy Davies ... Daniel Faraday
Jeff Fahey ... Frank Lapidus
Ian Somerhalder ... Boone Carlyle
Adewale Akinnuoye-Agbaje ... Mr. Eko
Michelle Rodriguez ... Ana Lucia Cortez
L. Scott Caldwell ... Rose Nadler
Sam Anderson ... Bernard Nadler
John Terry ... Christian Shephard
Mira Furlan ... Danielle Rousseau
Tania Raymonde ... Alex Rousseau
Fionnula Flanagan ... Eloise Hawking
Alan Dale ... Charles Widmore
Sonya Walger ... Penelope Widmore
William Mapother ... Ethan Rom
Mark Pellegrino ... Jacob
Titus Welliver ... Man in Black

USA 2004-2010, je ca. 43 Min.
ABC / Disney
D-Start: 04.04.2005
FSK 12 - FSK 18

Trailer:
[Der nachfolgende Trailer kann auch von Nicht-Kennern gesehen werden!]




[Hinweis: Der nachfolgende Trailer beinhaltet einige Spoiler!]

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